Das Johannesevangelium gewährt Judas, der Christus verrät, in der Passionsgeschichte nur einen kleinen Satz. Das war Karl Prokopetz, dem Leiter des Chores „Beurer CantaRhei“, zu wenig. So verquickte er in dem Konzert in der Hedwigskirche die Johannespassion von Heinrich Schütz mit dem Ein-Personen-Theaterstück „Judas“ von Lot Vekemans.
Der Schauspieler Roman Weltzien lief dafür mimisch auf Hochtouren, rannte in der Kirche hin und her, erzählte Aufwärm-Witze, brüllte, geiferte, weinte und verzweifelte, wendete sich bisweilen direkt an die überlebensgroße Christus-Skulptur von Josef Hamberger an der Altarwand und spuckte geradezu die „dreißig Silberlinge“ aus.

Er erzählte, was er von ihm erwartet hätte, nämlich ihn als König der Juden zu sehen, weshalb er ihn, um ihn wach zu rütteln, verriet. Am Schluss bekannte er, als Judas, stolz auf diesen seinen Namen zu sein, der ansonsten überall als Vorname verschmäht wird.

Diese exzellente Schauspielerleistung war ein – gewollter – harter Kontrast zu dem oft empfindsam weichen Klageton der Schütz’schen Passion. Am härtesten dann, wenn der Schauspieler in die andachtsvolle Stille nach den Worten „…und verschied“ nochmals schreiend auftrat. Da sprengte er schier die Johannespassion. Da knallten andachtsvolle Betrachtung und erregte Dramatik heftig zusammen.

Eingestreute Choräle

Zusätzlich waren die zahlreichen Zuhörer aufgefordert, eingestreute Choräle zu singen, wurden so als Zuhörer zu emotional beteiligten Mitwirkenden, zu Gottesdienstbesuchern: eine weitere Drehung der dramatischen Spirale.

Mit leicht angesetztem Tenor, gläubiger Intensität und klarer Diktion sang Christoph Declara den Evangelisten, Karl Prokopetz selber hatte mit lyrisch-ariosem Tenor die Rolle des Pilatus übernommen, Klaus Maier sang den Christus mit warmem und etwas elegischem Bass. Prokopetz ließ die Passion lyrisch fließend und damit rhythmisch nicht sehr markiert beginnen. Rhythmisch bewegter und lebendiger wurden die Sänger dann natürlich in den Turba-Chören, allerdings waren die einzelnen Chorstimmen nicht einheitlich dezidiert hörbar, vielleicht, weil sie nicht nach Stimmlage standen, sondern stimmlich durcheinander.

Dramatische Bildkraft

Das nahm den Chören manchmal die dramatische Bildkraft, die bedrängende Wucht durch die auf- und durcheinander folgenden blockhaften Einsätze. Dafür hörte sich alles so hektisch erregt an, wie die Partitur es vermitteln will. Obwohl die Sänger sichtbar sehr aktiv waren, mit Blicken an den suggestiven Gesten des Dirigenten hingen, fehlte oft die beherzte chorische Stimmkraft.

Leidenspathos wird Klang

Wunderbarerweise stimmte im Schlusschor „O hilf Christe“ alles, war der Chorklang geschlossen und doch transparent, lebendig, ja warmblütig schwellend, da war das „Leidenspathos des Gekreuzigten“, von dem Martin Gregor-Dellin in seiner Schütz-Biographie spricht, Klang geworden. Insgesamt war diese Passions-Mischung aus musikalischer Betrachtung, schauspielerischer Dramatik und Gottesdienst-Nähe ein künstlerisches Experiment, das bei allem drastischen Kontrast durchaus aufrüttelte – so wie Judas Jesus aufrütteln wollte.

(Oberbayerisches Volksblatt, 11.4.23, Rainer W. Janka)